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Fakten zur Aufführung 

INFERNO
(Johannes Kalitzke)
11. Juni 2005 (Uraufführung)

Bremer Theater

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Ruhe und Bewegung

Schon 1964 entstand das Theaterstück „Inferno“ von Peter Weiss (1916 bis 1982), das für Johannes Kalitze (geb. 1959) den Ausgangspunkt für seine Oper bildete. Erst 2003 aus dem Nachlass veröffentlicht und bisher auch als Schauspiel nicht aufgeführt, erlebte es nun seine Geburtsstunde besonderer Art am jüngst renovierten Theater am Goetheplatz in Bremen. Weiss plante in den 60er Jahren eine Trilogie in Anlehnung an Dantes „Göttliche Komödie“, in der er ein Welttheater der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse gestalten wollte. Der dritte Teil der unvollendet gebliebenen Trilogie, an den Paradiso-Teil Dantes angelehnt, wurde unter dem Titel „Die Ermittlung“ 1965 an 16 Theatern gleichzeitig aufgeführt und hat die Protokolle des Frankfurter Auschwitz-Prozesses zur Grundlage. Kalitzke hat in diesem Auftragswerk des Bremer Theaters, angeregt durch Intendant Klaus Pierwoß, Dante selbst und den römischen Dichter Vergil in den Mittelpunkt der Handlung gestellt, wie in der originalen „Divina Commedia“. Dante kehrt aus dem Exil in ein Land der Täter zurück. Die Tätergesellschaft nutzt die Schuldgefühle des Überlebenden zum Versuch, den Dichter einzugemeinden.

Peter Weiss, der in „Inferno“ sein eigenes Schicksal als emigrierter Jude, als Schriftsteller im Exil und seine Erfahrungen mit dem Deutschland der Nachkriegszeit thematisiert hat, über sein Werk: „Inferno beherbergt alle die, die nach des früheren Dante Ansicht zur unendlichen Strafe verurteilt wurden, die heute aber hier weilen, zwischen uns, den Lebendigen und unbestraft ihre Taten weiterführen und zufrieden mit ihren Taten leben, unbescholten, von vielen bewundert.“ Kalitzke wollte ein Werk schreiben, das uns als Erkennungsgrundlage der eigenen Gegenwart dient. Er sah in dem Stück Aspekte, die sehr aktuell sind. Dennoch sind auch bei ihm etliche Bezüge zu Nazi-Deutschland zu sehen. Er hat seine Oper, die dem ersten Teil der „Göttlichen Komödie“ folgt, in drei Kreise aufgeteilt, die inhaltlich und musikalisch jeweils in einzelne Nummern gegliedert sind. Der erste Kreis zeigt den Dichter, kostümiert in alter Zeit nachempfundener Tracht, als Reminiszenz an die Zeit, in der er lebte, leidend inmitten einer modernen Gesellschaft, in der alle Schichten vertreten sind. Da steht der biedere Spießbürger neben der Salon-Dame, der Kirchenvertreter neben dem Soldaten.

Sie alle bewegen sich in einer marionettenhaft starren Choreographie, sind nie sie selbst, die Mimik als Grimasse. Hervorragend sowohl stimmlich als auch darstellerisch gestaltet Armin Kolarczyk die Rolle des Dichters, bewältigt souverän die schwierige Partitur. Der Dichter als Gegenpart zur heutigen Konsumgesellschaft und das Bemühen, damit umzugehen. Vergil – im Werk Dantes dessen fürsorglicher Führer durch die Unterwelt – spielt hier den angepassten Schreiberling, gleichfalls beeindruckend in seiner Bühnenpräsenz: Benjamin Bruns. Sybille Specht erfüllte die Figur der Beatrice in jeder Hinsicht mit Inhalt und Farbe. Alle anderen wichtigen Personen wechselten von Rolle zu Rolle, gut ergänzt durch den Chor.

Stefan Klingele führte die Bremer Philharmoniker gut vorbereitet und mit Herzblut und Kompetenz durch die Partitur. Vierteltönigkeit führte erstaunlicherweise im hier erlebten Endergebnis zu überraschendem Wohlklang, sich zwangsläufig durch die Harmonik entstehend. Der Komponist hatte zuvor noch nie mit mikrotonalen Elementen gearbeitet. Überhaupt war die Musik Kalitzkes oft von betörender Vielfalt und Sinnlichkeit. Die Instrumentierung erstreckte sich von nahezu klassischer Orchesterbesetzung bis zu klug und geschickt eingesetzter Elektronik. Da gab es E-Gitarre, Schlagzeug, Saxophone, Keyboards und Klaviere, aber auch eine Theorbe, also eine alte Laute, die den Bezug zu Palestrina herstellt.

Der Regisseur David Mouchtar-Samorai stand in Abstimmung mit dem Komponisten, beide entwickelten das Stück nach und nach gemeinsam. So ergab sich organisch das Konzept.

Das Bühnenbild war der genau passende äußere Rahmen. Heinz Hauser dachte sich ein rechtwinkliges Gittergeflecht im Hintergrund aus und eine überdimensionale Spirale, die von vorn nach hinten sich verjüngend aufgestellt ist. Sie bildeten auch entsprechende Analogien zur Musik.

Trotz der Fülle der Bilder, die auf die Zuschauer einwirkten, entglitt nichts in Aktionismus. Es gab eine wunderbare Ausgewogenheit zwischen Ruhe und Bewegung, im perfekten Zusammenspiel mit der Musik. Als winziger Wermutstropfen dieser großartigen Aufführung sei die hin und wieder mangelnde Textverständlichkeit genannt. Die Übertitelung kann hier nur stören oder noch als äußerster Notnagel dienen, größten Gewinn aus dem Ereignis zu ziehen.

Das Publikum dankte allen Machern und Mitwirkenden mit enthusiastischem Beifall. Kalitzkes „Inferno“ – ein Werk, das in Erinnerung bleiben und zum Standard-Repertoire der Neuschöpfungen gehören wird. (gh)


Fotos: © Jörg Landsberg