Alban Nikolai Herbst �ber
Benjamin Britten "Peter Grimes" an der Komische Oper Ber-lin Benjamin
Brittens 1945 uraufgef�hrte Oper "Peter Grimes" bedeutete nicht
nur f�r den Komponisten selbst, sondern f�r die gesamte englische
Musikwelt eine Z�sur: Nach Jahren, wenn nicht Jahrzehnten mehr oder
minder uninspirierten Vorsichhin-wurstelns war die ersehnte Britische
Nationaloper geradezu unversehens aus der Taufe gehoben. Und der
Komponist selbst hatte endg�ltig in seine speziellen Klang-welten
gefunden: Man vergleiche nur die durchweg klassizistischen, immer
sehr ele-gant-spritzigen Instrumentalkompositionen vor dem "Grimes"
- Simple Symphony, Klavier- und Violinkonzert, auch Symphonia
da Requiem - mit dem sehr dem engli-schen Sprachflu� anempfundenen
Melos brittenscher Lied- und vor allem Opern-kunst, die seit der
1943 uraufgef�hrten Serenade f�r Tenor, Horn und Orchester
entstanden ist: Von The Rape of Lucretia �ber das rundweg
meisterhafte The Turn of the Screw bis zum sp�ter Owen
Wingrave hat der Komponist zu einem absolut unverwechselbaren,
sich stetig perfektionierenden Klanghof gefunden, der, um den Kisch
zu vermeiden, auf h�chst manieristische Weise der Seele ihren Raum
schafft.
Es ist ein sehr spezieller, nicht selten herzgreifender Schmelz,
den Britten zu komponieren versteht, und zwar gerade deshalb, weil
er seine musikalischen Findungen nicht - wie etwa Puccini oder Wagner
- feiert, sondern zunehmend nur noch andeutet, aufschei-nen l��t,
schon sind sie wieder verschwunden und man h�ngt ihnen nach wie
einem fernen Hall. Das hat sich seit Serenade und Peter
Grimes immer feiner, auch manie-rierter, ausentwickelt; noch
der br�chige Death in Venice von 1973 lebt davon. Im Peter
Grimes beginnt das, besonders in den Grimes-Partien, zwischen
all dem Ges-hanty und Gestampfe und Zwischennummern, die an Couplets
erinnern, - ein Reflex vielleicht auf den vorangegangenen, operettigen
Paul Bunyan.
Jedenfalls ist es von besonderem Reiz, da� man derzeit (April/Mai
2003) an Berlins Komischer Oper zwei dieses Melos Brittens ausgesprochen
charakterisierende Opern in, meine ich, exemplarischen Inszenierungen
h�ren kann: Harry Kupfers gl�serne Abschiedsinsze-nierung "The Turn
of the Screw" aus dem letzten Jahr und, seit dem 1. Mai des jetzi-gen,
unter der Stabf�hrung Kirill Petrenkos den "Peter Grimes" des Teams
von Katja Czellnik und Vera Bonsen. Die Hauptpartie singt ein beklemmend
verst�rt wirken-der, dabei ebenso leidenschaftlich sprunghafter
wie elegischer Douglas Nasrawi, der seine falsettierten Leidenskl�nge
geradezu sichtbar aus dem Bauch heraufzieht. Mit-leidsvoll, aber
nicht minder verwirrt steht ihm der kr�ftige Sopran Giselle Allens
zur Seite. �berhaupt zeichnet sich das Ensemble durch s�ngerische
Pr�senz aus, ob nun Nanco de Vries' Balstrode, Metteo de Montis
mit zynischer Diebsfreude ausgespiel-ter Swallow, ob Carsten Sabrowskis
sehr r�umlich klingender Hobson.
Dennoch vermerkte die Berliner Kritik mit unverhohlener H�me, die
Premiere sei unter heftigen Buh-Rufen �ber die B�hne gegangen und
also durch dieselbe gefal-len. Czellniks und ihrer Ausstatterin
Vera Bonsens Arbeit zeichne sich durch Ein-fallslosigkeit, Plattheit,
ungen�gende Personenf�hrung aus. Die Berliner Zeitung ging sogar
so weit, Douglas Nasrawi farblos zu nennen. Seine Stimme sei ohne
Aus-druck, gequetscht... die Geh�ssigkeiten wollten gar kein Ende
mehr nehmen (zum
Nachlesen)
So war denn die zweite Auff�hrung, die ich besuchte, nicht nur des
sch�nen Wetters wegen so gut wie nicht besucht. Was bedauerlich,
ja skandal�s ist. Denn die Kritik hat nicht nur unrecht, sondern
man mu�, den Zeitgeist bedenkend, folgern: Die Kriti-ker l�gen,
weil eine Inszenierung wie diese nicht in den mainstream pa�t, der
ja nur zu gerne Wilsons Farb- und Gr�nemeyers Menschelkeiten mixt.
Von solchen Zuge-st�ndnissen an den Kitsch findet sich in dem Berliner
Peter Grimes nichts oder doch ziemlich wenig. Gerade deshalb
erlebt, wer sich einzulassen bereit ist, wirklich gro�e Opernmomente.
Auf dieses sich-Einlassen sollten als allererstes Kritiker verpflichtet
sein; es gibt so etwas wie einen Rezeptionswillen. Doch haben halt
alle ihren Beck-messer lieb. Erst der Chor der Allgemeinheit l��t
den verstummen. Nun hat, anderer-seits, der Chor der Komischen Oper
einen tats�chlich nicht geringen Anteil an den gro�en Opernmomenten
dieser Inszenierung.
Doch schon das B�hnenbild ist von schlagender Kraft: der gesamte,
riesenhaft wir-kende B�hnenraum mit Fu�matten ausgeschlagen - Fu�matten
bedecken den B�h-nenboden, die Seitenw�nde, die Decke - der Chor
geht darauf, lebt darauf, Dumpf-heit der (klein)b�rgerlichen Existenz,
nur die Wareng�ter bringen Licht ins Dasein, falsches Licht, selbstverst�ndlich.
Wir sehen die B�rger - die bei Britten "einfache" Leute, n�mlich
Gemeindemitglieder eines Fischer�rtchens, sind - sich die F��e ab-treten,
immer wieder, ein leerlaufendes Ritual, es wird ferngeschaut, ins
Publikum gezappt, zu den pubertierenden M�dchen sind einige Herren
h�chst unfein, es wird gegrabscht und gekniffen, die anderen Frauen
erf�llen treubrav ihre soziale Ge-schlechtsrolle, b�geln, kochen,
decken den Tisch, stauben die Jacketts ihrer Ehem�n-ner ab... und
dazwischen erscheint wie ein b�ser Geist immer wieder dieser st�rri-sche
Grimes. Wir gern w�re man ihn los! Das Wort von der b�sen Gesellschaft
m�chte im Zeitalter des Pops niemand mehr h�ren.
Sicher, Czellniks Perspektive ist nicht neu, aber die Perspektive
eines Musicals eben-so wenig, und gegen eine solche steht die Arbeit
Czellniks demonstrativ. Der politi-schen, in den letzten zwanzig
Jahren "in" geworden Vers�hnung mit dem Kapitalis-mus verweigert
sich diese Inszenierung ebenso wie dem permanenten Gequassel, es
seien U- und E-K�nste gleich viel wert, alles, Tantchen, egal, ob
Hiphop, Schlager, Avantgarde... �berhaupt ist ja der Anspruch, in
der Moderne m�sse alles neu sein, von seltsamer Hybridit�t: Dergleichen
wird von realistischen Szenerien eben nicht verlangt, als tr�gen
sie ihre Dignit�t - vielleicht durch Einschliff? - in sich selbst,
die Moderne hingegen habe sich st�ndig aufs neue zu rechtfertigen.
Tats�chlich w�re eine anti-realistische Traditionsbildung aber �berhaupt
erst durch Wiederholungen m�glich. Eine Wiedererkennbarkeit mu�
ganz ebenso erm�glicht werden, wie wenn naturalistisch B�ume auf
dem B�hnenprospekt f�r B�ume im Tiergarten stehen. Also beharrt
Czellnik auf dem Stachel. Allerdings einem, der auch uns Widerst�ndlern
nicht angenehm ist. Das eigentlich Beeindruckende an Czellniks Inszenierung
ist n�mlich, da� nicht nur die "b�rgerliche Masse" dumpft wirkt,
verroht, feige und auf jede Weise ans Entertainment fixiert; auch
der Held dieser Oper zeichnet sich kei-neswegs durch emphatische
Philantropie aus.
Nasrawis Grimes ist kein guter Mensch, wie sich - frei nach Rousseau
und vor Groult - die L�rick Erich Frieds so einen immer vorgestellt
haben mag, sondern seinerseits deutlich gef�hlsgehemmt, bisweilen
sogar �bersprunghaft fehlgeleitet, recht grob, ja brutal und hin-
und herge-worfen zwischen Dazugeh�renwollen und Angewidertsein...
man kann ihm schon zutrauen, da� er seine Lehrjungen qu�lt. "Je
b�sartiger eine Gesellschaft, desto b�s-artiger das Inidviduum"
zitiert das Programmheft den Komponisten selbst. Jedenfalls ist
Peter Grimes kein Mensch, mit dem man sich gerne identifiziert,
und also braucht es Szenen, die den j�hrzornigen, schnell mal zuschlagenden
Charakter sich wenigs-tens vor�bergehend beruhigen lassen, weil
auch ein W�terich wie er zuzeiten m�de wird. Dann stellt er mit
seinem neuen Lehrjungen Spielzeuge auf, die den beiden prompt die
Leute wieder zertreten.
Nicht diese an sich banale Regieidee beeindruckt hier, sondern die
z�he, sich hamsterrad�hnlich leerlaufende Energie Grimes, die ihn
die Spielzeuge immer wieder neu aufstellen l��t, seltsam protestlos,
beinah autis-tisch. Hier verleiht Nasrawi seinem Grimes etwas von
der Verlorenheit Wozzecks, und wer das in dieser Oper bemerkt, den
�berkommt es unvermittelt stumm. Es sind diese Momente, die Czellniks
Inszenierung davor bewahren, da� man den Protago-nisten �bergriffig
zu nahe kommt; Grimes bleibt bis zum Schlu� eine durchweg am-bivalente
Figur. Dynamisch gesehen, l��t die Regisseurin zwei behinderte,
verboge-ne Psychostrukturen aufeinanderprallen, und der Pessimismus
ihrer Inszenierung be-steht darin, da� sie jede Erl�sung ausspart...
erst kurz vor Ende des 3. Akts, das be-deutsam den Anfangschor wieder
aufnimmt, wird der Focus ein wenig zu sentimental auf Grimes' Innenleben
gerichtet und also doch noch ans Mitgef�hl appelliert. Zumal Grimes
v�llig unmotiviert einen Molotow-Cocktail in die hinteren Kulissen
wirft. Hier hat die Inszenierung dann doch f�nf sehr-sehr lange
Minuten, und zwar gerade deshalb, weil so getan wird, als w�re ein
Nachhausebringen Grimes' noch m�glich, bzw. �berhaupt je m�glich
gewesen. Als h�tte er sich jemals auflehnen k�nnen.
Die Tragik und Tragweite der kalten, doch mitleidsvollen Aufforderung
Balstrodes, Gri-mes solle sein Boot auf hoher See leckschlagen,
ist aber gerade der Ausweglosigkeit geschuldet, und zwar einer von
Anfang an. Das Geschehen ist tragisch, nicht etwa sozialtherapeutisch
revidierbar. Czellniks Molotow-Cocktail l��t Grimes gewisser-ma�en
am Leben bleiben. So etwas hat allenfalls tagesaktuelle Brisanz,
insofern die Premiere kurz vor einem 1. Mai stattfand, in Kreuzberg
und auf dem Prenzlauer Berg traditionellerweise ein Tag der brennenden
Autos und zerschlagenen Schaufenster-scheiben. H�chst fraglich,
ob eine solche Anspielung intendiert gewesen ist, auch wenn sich
Parallelen zwischen dem fehlgerichtet w�tigen Grimes und den fehlgerichtet
w�tigen Autonomen durchaus ziehen lie�en.
Fraglich aber auch, ob ein Charakter wie derjenige Grimes' jemals
die Souver�nit�t bes��e, nicht nur Konsumbegeisterte zu bedienen,
nein, ihnen auch kopfsch�ttelnd skeptisch, ja distanziert-ver�chtlich
zuzusehen. Das m�chte ihn Czellnik aber in einer gro�en Traumvision
halluzinieren lassen. Sein fast w�tender Versuch, sich Akzeptanz
durch besonders gute Fischf�nge zu erkaufen, lie�e ihn solche ihm
gewidmete Begeisterung auch in einem Traum wohl eher genie�en. Etwas
davon hat Czellnik ganz sicher ebenfalls gesp�rt. Denn zwischendurch,
nahezu unmotiviert, l��t sie ihren Grimes auf Einzelne, die er damit
aus der Masse l�st, zugehen, sie kurz umarmen, ja k�ssen. Insofern
hat die Idee, aus dem lynchw�tigen Mob Madonna- und Trend-begeisterte
Fans zu machen, etwas sehr Plausibles, selbst wenn der gegen Grimes
gerichtete Schrei ihm nun pl�tzlich huldigt. Diese frenetische Huldigung
ist sicher eine - allerdings legitime - Verf�lschung: legitim insofern,
als es ja genug traditionelle Inszenierungen gegeben hat, um zu
vergleichen... vor allem aber auch deshalb, weil einen das realistische
Libretto Montague Slaters, durch das die nicht realistische Musik
Brittens schwingt (was sollte das auch sein: realistische Musik?),
Absichten, Situationen und psychische Dynamiken deutlich genug vor
Augen f�hrt, um sich auch auf den Weg dieser Idee f�hren zu lassen.
Britten selbst stand dem Realismus seines Librettisten eher skeptisch
gegen�ber, das Meer war f�r ihn von allem Anfang an symbolisch gemein...
vielleicht ist Verf�lschung viel eher in der Gepflogenheit zu finden,
diese Oper vermittels kulissiger Meeresbr�nstigkeiten zu illustrieren.
Zugegeben, die Titel der Zwischenspiele legen so etwas nahe, andererseits
er�ffnet die W�hnung, es handle sich bei ihnen um Seelenzust�nde,
eine v�llig andere Perspektive auf die Masse Mensch, die das Meer
sei: St�cke wie "Moonlight" etwa bewahren eben dem Individuum mehr
als nur einen Rest im bloch'schen Sinn utopischer Menschlichkeit.
Sozusagen l�sen sie es aus der Masse heraus. Da kann der Chor tausendfach
nach Stech und Shanty schreiten, jeder Einzelne darin teilt mit
Grimes Hoffnung und Not. Und teilt die Lust. Und unser aller Dahingeschwemmtwerden:
In ceaseless motion comes and goes the tide.
Flowing, it fills the channel broad and wide,
Then back to sea with strong, majestic sweep
It rolls in ebb, yet terrible and deep.
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