Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jens Großmann

Aktuelle Aufführungen

Vergeblicher Trost der Muse

HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN
(Jacques Offenbach)

Besuch am
18. September 2016
(Premiere)

 

 

Opernhaus Wuppertal

Der Alptraum hat ein Ende. Dem finanziellen Engpass eines Theaters mit der Zerschlagung des Ensembles begegnen zu wollen, diese denkbar schlechteste Lösung, die sich 2013 der damalige Oberbürgermeister Peter Jung und der unglücklich taktierende Generalintendant und –musikdirektor Toshiyuki Kamioka zusammenmauschelten, wurde im letzten Moment zurückgefahren, bevor die Wuppertaler Oper mit Vollgas vor die Wand zu krachen drohte. Das Publikum machte die Null-Lösung nicht mit, die künstlerischen Erfolge blieben dem Zufall überlassen, die erhofften Einsparungen blieben aus. Unter der neuen Leitung von Intendant Berthold Schneider, bisher Operndirektor am Staatstheater Darmstadt, und Generalmusikdirektorin Julia Jones sollen neue Zeiten anbrechen. Was die musikalische Leistung des ehrgeizigen Auftakt-Wochenendes angeht, darf man hoffen.

Jacques Offenbachs einzige Oper Hoffmanns Erzählungen bietet den Sängern des neuen, wenn auch mit elf Kräften noch kleinen Ensembles eine dankbare Plattform, um sich ins rechte Licht setzen zu können. Vokal wird man nicht enttäuscht, teilweise sogar mit Spitzenleistungen überrascht. Das Wuppertaler Sinfonieorchester scheint wie befreit aufzuspielen, auch wenn mit David Parry noch nicht die neue Musikchefin den Stab schwingt. Von der Begeisterung des Publikums ganz zu schweigen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Berthold Schneider gelingt es, mit dem Hoffmann gleich vier international tätige Regisseure zu betrauen, die er persönlich gut kennt und die für einen Bruchteil der üblichen Gage tätig wurden. Finanziell bleibt die Produktion also im Rahmen. Allerdings gehen solche Ko-Aktionen mehrerer eigenwilliger Künstler selten gut. Das funktionierte schon in der legendären Stuttgarter Ring-Produktion mit vier Spitzenregisseuren nicht, in Essen noch weniger. Und wenn man von der Prämisse ausgeht, dass es sich bei Hoffmanns Erzählungen ohnehin um vier eigenständige Stücke handelt, wie im dürftigen, wenig informativen und unübersichtlichen Programmblatt zu lesen ist, droht Gefahr, dem ohnehin zersplitterten, nur fragmentarisch hinterlassenen Werk den letzten Rest an Zusammenhalt zu rauben. Und genau das tritt ein. Je mehr sich die vier Regisseure um ein eigenes Profil bemühen, umso mehr bricht die Geschichte auseinander.

Foto © Jens Großmann

Den Prolog betreut der nicht nur in den anglo-amerikanischen Ländern prominente Theatermann Charles Edwards. Gespielt wird auf einem schmalen Rand vor einer geschlossenen, nüchtern grauen Rückwand. Kerstin Brix torkelt als Muse, noch vollgesoffener als der verzweifelte Hoffmann, ordinär über die Bühne und liefert sich ein derbes Wortgefecht mit dem Dirigenten. Während Hoffmann und seine Saufkumpane eintrudeln, nimmt Lindorf in Gestalt einer hochnäsigen „Stadträtin“ in einer Seitenloge Platz und kommentiert in akzentbeladenem Deutsch das Geschehen. Dass sich die Dame in Stella verliebt, sorgt für einen mäßig prickelnden lesbischen Reiz. Interessanter wirkt da schon die Besetzung der Rolle mit dem „weiblichen Bariton“ Lucia Lucas. Eine sehr frauliche Erscheinung mit einer in beachtliche Tiefen reichenden männlichen Baritonstimme. Ein polternder, lauter Prolog, der auch im Orchester entsprechend knallig beantwortet wird. Dass der Prolog mit Ausnahme der Kleinzack-Ballade deutsch gesprochen und gesungen wird, führt zu einer weiteren Vergröberung.

Akt eins im Kabinett des Physikers Spalanzani. Vor einer einem Dr.-Caligari-Film entlehnten Häuserkulisse lässt Regisseur Nigel Lowery den Diener Cochenille wie ein Gehilfe Dr. Frankensteins Leichen herbeischaffen, aus denen die Puppe Olympia montiert wird. Die gebärdet sich nicht gerade als zartes Püppchen, sondern als lüsternes Teufelsweib, das mit bizarren Verrenkungen Hoffmann um den Kopf und schließlich um sein bestes Stück bringt, wenn sie coram publico kräftig zubeißt. Trotz der blutigen Drastik eine Lösung, die erstaunlich altbacken wirkt.

Akt zwei im Salon des Musikers Crespel, der seiner musikliebenden, aber todkranken Tochter Antonia das Singen verbietet. Christopher Alden lässt vor einer schlichten weißen Wand spielen, die sich rot färbt, wenn Antonia verbotenerweise zu singen beginnt. Alden stellt Antonia als Opfer mehrerer feindlicher Kräfte ins Zentrum. Nicht nur der satanische Dr. Miracle bringt das Mädchen zur Verzweiflung, sondern auch der egoistisch-herrische Vater und sogar Hoffmann, der ihr ebenfalls das Singen verbieten will und sich ungewohnt abweisend verhält. Zum traurigen Ende des Mädchens tragen alle bei, auch der bizarr als weißer Todesengel in Erscheinung tretende Geist der toten Mutter. Der eindringlichste, wenn auch nicht durchweg logisch angelegte Akt des Abends.

Akt 4 in Venedig. Inga Levant taucht die Barcarole samt kitschig arrangiertem Orchestervorspiel in bonbonfarbenes Licht, das unvermittelt einer grell-weißen Klinikbeleuchtung weicht, die jede Illusion an die „sterbende Stadt“ verscheucht. Wir befinden uns in einer alten Nervenheilanstalt, ausgestattet mit Badewannen und Elektroschock-Apparaturen. Der böse Magier Dapertutto tritt hier als Krankenschwester in historischer Florence-Nightingale-Tracht auf, während seine grazile Kollegin Giulietta in verführerisch knapper Schwesterntracht die männlichen Patienten mit Zusatzleistungen erfreut, die keine Krankenkasse zahlt. Hoffmann zappelt wie ein Bilderbuch-Irrer über die Bühne und in die Fänge der schönen Satansbraut. Eine schrille Inszenierung, die jede romantische Assoziation scheut und einen ähnlich polternden Eindruck hinterlässt wie der Prolog und der Olympia-Akt. Dass man hier auf die liebgewonnenen, aber ursprünglich nicht vorgesehen Hits der Spiegel-Arie und des Septetts verzichtet, kommt dieser Werkdeutung entgegen.

Kurz, schmerzhaft und ein wenig schal dann der Epilog: Die dominante Stadträtin zieht mit der etwas widerwilligen Stella ab. Der Trost der Muse, in deren Rolle mittlerweile Hoffmanns Weggefährte Nicklausse geschlüpft ist, wird von ihm vehement abgewehrt. Traurig, traurig …

Das Wuppertaler Sinfonieorchester spielt so beflügelt wie lange nicht mehr und scheint sich von den derzeitigen Rettungsversuchen viel zu versprechen. Da mag David Parry auch recht robuste und laustarke, nicht immer französisch schillernde Töne anschlagen, die Richtung dürfte stimmen.

Und was die nahezu ausschließlich dem erfreulich jungen Ensemble angehörenden Stimmen angeht, beweist man ein durchaus glückliches Händchen. Geradezu sensationell trumpft die junge Sopranistin Sara Hershkowitz in allen vier zentralen Frauenrollen auf. Eine leidenschaftliche Darstellerin, die die ungleichen stimmlichen und szenischen Anforderungen der gewaltigen Herausforderung mühelos stemmt. Ob die kapriziösen Koloraturen der Olympia samt akrobatischer körperlicher Aktionen, ob die langen, warmen lyrischen Ergüsse der Antonia in ihrer intensiven Verzweiflung oder die kecke Sinnlichkeit der Giulietta gefragt sind: Sara Hershkowitz kommt einem Lottogewinn für das Ensemble gleich.

Dass der Hoffmann als kräftezehrende Tenor-Partie gilt, kann Mickael Spadaccini nicht restlos überspielen. Doch verfügt sein Tenor über genügend Strahlkraft und lyrische Wärme, um die Mammutaufgabe vorzüglich bestehen zu können. Wunderbar anzuhören und anzusehen ist auch die Mezzosopranistin Catriona Morison als Nicklausse und die Stimme der Mutter. Lucia Lucas hat sich als Bariton-Sängerin einen Namen machen können. Sie verkörpert die vier Bösewichter mit durchaus schillerndem Charisma und kann ihre vom Mezzo- bis in tiefere Baritonregionen reichende Stimme erfolgreich einsetzen. Mit diesen vier Trümpfen ist der Abend musikalisch gerettet.

Die kleineren Rollen erweisen sich als adäquat besetzt, so dass kein Ausfall zu beklagen ist. Eingeschlossen der recht kleine, aber treffsicher singende und agierende Chor.

Das Publikum applaudiert wie befreit und jubelt auch dem szenischen Team begeistert zu. Dass es in seiner Euphorie jede noch so kleine Nummer beklatscht und mancher schon bei einer Generalpause die Hände zum deplatzierten Beifall ansetzt, muss nicht sein, scheint aber einem Trend unserer Zeit zu folgen. Insgesamt verbreitet die Produktion trotz der problematischen szenischen Gestaltung eine Aufbruchstimmung, die dem Wuppertaler Theater gut tun wird.

Pedro Obiera