Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Lukasz Rajchert

Hintergründe

Zwischen Mordlust und Hingabe

Auch beim 24. Kurt-Weill-Fest in Dessau wird wieder das musikalische Umfeld des Komponisten beleuchtet. Dabei wird der Bogen vom – heiter moderierten – Konzert bis zur Kurzoper weit gespannt. Schon das Eröffnungskonzert zeugt von der auch diesjährigen hohen Qualität des Festivals.
Ernst Kovacic mit Studenten - Foto © Kurt-Weill-Fest Dessau

Da können die Sachsen-Anhalter froh und dankbar sein – auch die Prominenz weiß das: Das Kurt-Weill-Fest in Dessau ist ein besonderes Ereignis am kulturpolitischen und gesellschaftlichen Himmel von Sachsen-Anhalt, an dem längst nicht überall die Sonne strahlt. Zur Eröffnung des 24. Kurt-Weill-Festes am 26. Februar kommen sie alle: Der Ministerpräsident, der Oberbürgermeister, viele Besucher aus dem Umland, aus Berlin und weiter her. Terminlich geschickt zusammengefasst beginnt dieser Tag mit dem offiziellen Festakt und abends – endlich – dem Eröffnungskonzert.  Mit Werken von Igor Strawinsky, Kurt Weill, Ernst Krenek und Modest Mussorgsky stellt das Festival die entscheidenden Komponisten der neuen Moderne des beginnenden 20. Jahrhunderts vor. Die Besucher des diesjährigen Festes in Dessau dürften überrascht sein. Auch nach 24 Jahren gelingt es den Veranstaltern, mit neuen Entdeckungen bei Weill und seinen Zeitgenossen dem Festival ungewohnte Akzente zu geben.

Mit zahlreichen Werken und Bearbeitungen der Kompositionen von Kurt Weill und Ernst Krenek wagt sich das Festival an eine Periode der modernen Musikgeschichte, die von vielen Umbrüchen geprägt ist.  So sieht Weill durchaus selbstbewusst die „traditionelle Oper“ am Ende. „Ich bin überzeugt, daß die Oper im traditionellen Sinne mit Wagner, Strauss und deren Nachfahren ihr Ende gefunden hat. Man muß selbstverständlich das Beste der Epoche konservieren; man kann den Weg aber nicht weiter fortsetzen.“ Seine eigenen Vorstellungen, zu Beginn noch unscharf, konkretisiert er später: „Die mir vorschwebende neue Form ist richtiges, lebendiges, modernes ‚Musikalisches Theater‘“, hieraus entwickelt sich unter Mitwirkung anderer Komponisten die „Zeitoper“.

Die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, seit Jahren bewährter Kooperationspartner in Dessau, beginnt den Festabend mit der umfangreichen Pulcinella-Suite von Igor Strawinsky. Die musikalische Leitung dieses anspruchsvollen Abends liegt in den Händen der jungen Dirigentin Ariane Matiakh, die in Frankreich zur neuen Dirigentengeneration gezählt wird, sich inzwischen aber mit Auftritten in Nizza, Graz und Berlin europäisch empfiehlt. Schnell kann sie die Zuhörer davon überzeugen, dass ein großes philharmonisches Orchester für sie ein gewohnter Arbeitspartner ist. Mit transparentem Dirigat entgeht ihr kein Einsatz, arbeitet sie Akzente und Phrasen in großer Gestik klar heraus.

Die Unterschiedlichkeit der Werke und ihre anspruchsvolle Rhythmik verlangen ein aufmerksames und technisch versiertes Orchester. Mit Musik wie Strawinskys Pulcinella-Suite, einem als Ballettmusik komponierten Werk in neun Sätzen, mit dem der Komponist erste Akzente seiner neuen, „sachlichen“ Musik setzt, möchte eine neue Komponistengeneration die Spätromantik beenden. Pablo Picasso als „Bühnenbildner“ und Léonide Massin als Choreograf helfen mit, und so ist aus dieser „Modernen“ ein Meilenstein der Ballettgeschichte geworden, deren Orchesterversion nun in Dessau auf die Bühne kommt. In zarten Figuren spielt Strawinsky mit häufigen Wechseln von Streichern und Holzbläsern, lässt Passagen erklingen, die an Volkstänze erinnern, lässt die Querflöte in großen Melodiebogen schöne Klangbögen aufspannen, bevor eine Violine im Wechsel mit den Flöten weiterträgt. Häufig verlangt Strawinsky rasche Tempowechsel, die Matiakh ihrem Orchester sicher vermittelt.

Im Vergleich zu Strawinsky klingt die folgende Berliner Sinfonie von Kurt Weill durchaus „moderner“. Heftige Dissonanzen im Forte, neue Perkussions-Elemente wechseln sich ab mit breiten Streicherpassagen oder schrillen Einsätzen der Piccolo-Flöte. Die Formen scheinen offen, der Stil wirkt eigenwillig, ungewohnt, starke rhythmische Elemente sind unüberhörbar. Besondere Eindrücke dieses Abends vermittelt Kreneks Erstes Violinkonzert, das 1928 in Dessau seine Uraufführung erlebte. In einem ständigen musikalischen Zwiegespräch treten der Solist Ernst Kovacic und das kleine Orchester in Beziehung. Kovacic, derzeit „Artist in Residence 2016“, tritt als leidenschaftlicher Violinsolist, Dirigent und Lehrer seiner Musikschüler auf und zaubert ein sehr lebendiges Krenek-Konzert auf die Bühne.

Im zweiten Teil des Abends überraschen die modernen Klänge von Mussorgskys Bilder einer Ausstellung. Diese durchaus bekannte Komposition überrascht in der Orchesterfassung von Maurice Ravel mit ungewohnten Klängen. Eine deutlich vergrößerte Perkussionsgruppe dokumentiert Veränderungen in Klang und Rhythmus. So erfährt das eingangs ertönende, bekannte Bläsersignal rhythmische wie melodische Variationen, bis sich die Spannung in einem breit ausgearbeiteten harmonischen Finale auflöst.

Die Rheinland-Pfälzischen Philharmoniker lassen Gemeinsames und Unterschiedliches von Krenek und Weill erklingen, Matiakh gibt den modernen Klängen Tempo und lebendigen Rhythmus und macht auf ihre weiteren Konzerte neugierig. Das Festpublikum der Eröffnung empfindet das ähnlich und bedankt sich mit minutenlangem Beifall.

Von den zahlreichen weiteren Konzerten, mal eine pantomimische Zaubernacht für Kinder, mal der Klassiker Dreigroschenoper unter Leitung von HK Gruber, sei noch ein nettes, ungewohntes Schmankerl am späten Samstagabend erwähnt: In den hohen Hallen einer säkularisierten Backstein-Kirche von Dessau erklingt Mackebens Tanzorchester – nein, besser noch als dieses. Ein junges Orchester der Akademisten von Musikhochschulen in Mannheim, Karlsruhe, Köln und Würzburg lädt zu einem bunten Potpourri aus Melodien von Weill, Krenek, Kreisler und Gruber ein, moderiert und locker dirigiert von Ernst Kovacic, der sich mit sichtlichem Vergnügen als Wiener Stehgeiger der 1920-er Jahre und als Entertainer einführt. Ob es ein Foxtrott-Potpourri aus der Dreigroschenoper, ein Walzerduett von Krenek ist, Melodien von Fritz Kreisler oder die drei MOB-Stücke von HK Gruber, wenn Johnny aufspielt, das geht ins Blut und in die Beine – Kirche hin oder her. Mit österreichischem Charme und manchem verschmitzten Augenzwinkern führt Kovacic die Besucher durch einen unterhaltsamen Samstagabend.

Opernleidenschaft, nüchtern betrachtet
Ariane Matiakh - Foto © Marco Borggreve

Mit Spannung erwarten das Festpublikum und die Fachöffentlichkeit die Aufführung von Zar und Diktator, zwei Kurzopern, wie sie 1928/29 durchaus modern waren. Die Zeitgenossen Kurt Weill und Ernst Krenek, beide 1900 geboren, wenden sich früh und unabhängig voneinander der „neuen Sachlichkeit“ zu, einer Kunstrichtung, die mit der Zeitoper auch eine neue Richtung im Musiktheater durchzusetzen versucht – mit nur kurzem Erfolg. Sie brauchen keine überhöhte Romantik oder Dramatik, sie scheuen sich nicht vor dem Trivialen, dem menschlichen Geschehen im banalen Alltag und setzen ganz bewusst Kontrapunkte zu den „monströsen“ Werken etwa eines Richard Wagners. Und so kommen der Einakter Der Diktator von Ernst Krenek und Weills Der Zar lässt sich fotografieren eher nüchtern lakonisch daher. Die altbekannten Geschichten um Macht, Liebe und Eifersucht werden in Doris Sophia Heinrichsens Inszenierung geradeaus und ziemlich nüchtern präsentiert. Der von Krenek als „tragische Oper“ komponierte Einakter schildert knapp und umrisshaft die wechselnden Beziehungen eines sich völlig überschätzenden Diktators zu zwei Frauen, die für eine der Damen tödlich endlich. Gegen Schluss erkennt ausgerechnet der erblindete Offizier als einziger die tatsächlichen Verhältnisse.

Kurt Weill stellt sein Stück Der Zar lässt sich fotografieren als Opera buffa vor und signalisiert damit von Anfang an seine komödiantische Absicht. So wird aus einem Politkrimi mit Attentatsvorbereitungen schließlich die Parodie auf die schrägen politischen Verhältnisse in irgendeinem Reich irgendeines Zaren. Mit den gleichen Schauspielern bringt Heinrichsen auf fast leerer Bühne ein quirliges Durcheinander im und um ein Fotoatelier auf die Bretter, in dem Amateur-Attentäter, Fotografen und die Begleiter die Verhältnisse immer wieder durcheinanderbringen. Die Diktator- und Zarenrolle ist mit Ulf Paulsen, Bariton, gewichtig und stimmlich gut besetzt, Stefanie Kunschke, lyrischer Sopran, und Iordanka Derilova, Sopran, geben in beiden Kurzopern überzeugende Gegenspieler. Tenor Albrecht Kludszuweit gelingen in der Rolle des erblindeten Offiziers durchaus tragische Momente. Bemerkenswert die Choreinschübe, die vor allem in der Zarenoper als ständige schwarz gekleidete Begleitung die Dramaturgie unterstützen. Unter Daniel Carlsbergs Leitung hat die Anhaltische Philharmonie keine Schwierigkeiten, das breite musikalische Spektrum von kammermusikalischen Partien über Schlagerelemente bis zu Tango und Foxtrott abzudecken.

Genre-Grenzen gesprengt
HK Gruber - Foto © Sebastian Gründel

Kurt Weill war nicht nur ein Musiker am Tor zur Moderne, er komponierte auch außerhalb der klassischen Formate Oper, Operette und Symphonie und traute sich, Genre-Grenzen zu ignorieren. Mit Elementen aus neuen amerikanischen Klängen, dem Schlager, dem Jazz und symphonischen Formen ebnet er den Weg zum Musical, das heute weitgehend den Platz der klassischen Operette übernommen hat. Es ist erfreulich, dass das Dessauer Festkomitee sich an dieser Vielfalt orientiert und mutig unkonventionell ein Tango-Streich-Trio neben den Bläser-Klanghimmel über Berlin und Liederliches mit den langjährigen Gästen der Weill-Feste Sigi Schwab und Cornelia Froboess ins Programm und auf die Bühne bringt. Ähnlich vielfältig sind die Aufführungsorte vom Anhaltischen Theater über eine Hotel-Lobby bis zur Gaststätte Eichenkranz in den Anlagen von Wörlitz und zur Synagoge Dessau – angemessene Plätze, die dem Programm entsprechen.

Beide Kurzopern erweisen sich in den Hauptfiguren als beängstigend aktuell. Die „suggestive Domination“ einiger unkontrollierter Machtmenschen, die offenbar ihrem eigenen Charisma erliegen, verwirrt zurzeit in Ost und West das politische Geschehen. Mit rund 60 Veranstaltungen ist der diesjährige Weg der Festspiele mit Kurt Weill und Ernst Krenek in die Moderne noch keineswegs zu Ende – und viele Besucher freuen sich schon jetzt auf das 25. Festival mit neuen Überraschungen.

Horst Dichanz