Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Roberta Invernizzi - Foto © Ludwig Olah

Hintergründe

Iphigenie mal drei

Dreimal Iphigenie als Musikdrama – welches ist wohl das beste der drei innerhalb der Gluck-Opernfestspiele in der Region Nürnberg konzertant aufgeführten Werke? Eine Entscheidung fällt schwer. Denn alle drei begeistern mit glänzender Musik, alle drei sind Raritäten, darunter befinden sich zwei deutsche Erstaufführungen.
Christoph Spering - Foto © Ludwig Olah

Das große Thema des Festivals ist diesmal Zeitkultur versus Streitkultur und macht sich fest an einer Ikone der Aufklärung, der antiken Gestalt der Iphigenie, die für Selbstbestimmung des Individuums in persönlicher Freiheit, für humanes Denken und Handeln, für eine Entscheidung aus moralischer Gesinnung heraus, fern von tradierten Prinzipien, religiösen Dogmen und staatlicher Doktrin steht.

Die Piccini-Iphigenie – Opfer des Gluck-Streits

Um 1780 stand der Iphigenien-Stoff hoch im Kurs, nicht nur bei Dichtern wie Goethe, sondern auch bei vielen Komponisten. Außerdem eignete er sich bestens, um bei den Intrigen in Paris zwischen den rivalisierenden Lagern der ehemaligen Königsmätresse Madame du Barry und der neuen Dauphine Marie-Antoinette einen Opernstreit um die Kulturhoheit auszutragen. Ein „Opfer“ war dabei Niccolò Piccini, der von der du Barry aus Italien in die französische Hauptstadt geholt worden war, aber letztlich dem von ihm bewunderten Christoph Willibald Gluck, den die Habsburgerin an den französischen Königshof geholt hatte, im Kampf um die musikalische Oberhoheit unterlag. Grund dafür war nicht die Qualität der von ihm geschaffenen Iphigénie en Tauride, sondern die Hinterhältigkeit der „Gegner“, die wussten, dass ihr Protegé schon längst am gleichen Stoff arbeitete; Piccinis Anhänger aber beauftragten ihn mit einer Komposition am selben Sujet. Als der erfuhr, dass Gluck seine Partitur schon fertig hatte, zog er die geplante Uraufführung 1779 zurück, und auch die nachgeholte Premiere zwei Jahre später wurde durch einen Brand im Opernhaus verhindert. So wurde das Werk zum allmählich vergessenen Schatz, weil spätere Werke Piccinis erfolgreicher den Weg zur Grand Opéra vorbereiteten.

Doch schon in seiner Iphigénie kündigt sich Neues an: Piccini vermeidet die konventionellen Muster der bisherigen Opera seria, also starre Da-capo-Arien; seine sind kurz gehaltene Miniaturdramen seelischer Erschütterung; seine Instrumentierung drückt mit vielschichtigen Klangfarben Expressives aus, knappe Ensembles entzücken durch melodische Harmonie, Rezitativisches ist eingeschränkt, große Chöre beeindrucken. Das nicht sehr zahlreiche Publikum in der Nürnberger Meistersingerhalle aber genießt diese Wiederentdeckung einer wunderbaren Oper fast atemlos. Schon die sehr bewegte, mit tragischen Momenten versetzte Ouvertüre bereitet auf das Geschehen vor, indem hier atmosphärisch die Vorgeschichte klanglich erlebbar wird, die Entrückung der Iphigenie durch die Göttin Diana nach Tauris, der dortige grausame Blutopfer-Brauch, die siegreiche Heimkehr ihres Vaters, seine Ermordung und die Rache an der Mutter durch den Bruder Orest, der sich nun auf der Flucht befindet. Mit ihrem ausgesprochen nuancierten, klug abgerundeten Spiel kann die Camerata Salzburg alle diese Regungen effektvoll und mitreißend gestalten. Wolfgang Katschner führt das Orchester mit Hingabe und genauester Präzision, und so formt er auch die Naturereignisse illustrierend und plastisch nach, lässt freundliche Idylle aufscheinen, als der Herrscher Thoas Heiratspläne schmiedet, und begleitet alles mit düster-gewalttätigen Akzenten, als sich Iphigenie seinem Begehren widersetzt. Immer wieder mischt sich der Chor ein, das Berliner Vocalconsort mit seinen hervorragenden Einzelstimmen, mal mit Lobpreis, mal im Gebet an die Götter, mal mit Klage über das Schicksal der Tantaliden, mit mitleidigem Lamento, süßem Dank an Diana und dem Jubel, das schreckliche Land Tauris – die heutige Krim – verlassen zu dürfen. Die Gesangs-Solisten gestalten dazu sehr packend ihre Rollen und Charaktere. Claudia Sorokina ist eine stimmgewaltige, hochdramatische Iphigénie mit leicht metallischem Einschlag; das passt zu ihrer Verzweiflung und der Zerrissenheit zwischen der Pflicht, Diana zu opfern, und der Abscheu, einen Menschen zu töten, sowie zum Zwiespalt, wen sie ausliefern solle, Orest, ihren Bruder, den sie erst zum Schluss wieder erkennt, oder dessen Freund Pylades. Doch manchmal ist ihr Sopran gerade für die gefühlvollen, intimeren Gedanken einfach zu kräftig. Jean-Vincent Blot kann dagegen mit schneidend harter Stimme den Macht gebietenden König Thoas sehr überzeugend darstellen. Frédéric Cornille gestaltet mit fülligem, weichem Bariton den von Furien gejagten und um den Freund besorgten Orest äußerst einfühlsam. Diesen Pylades singt der Tenor Benedikt Kristjánsson geradezu als Verkörperung reinster Unschuld. Retterin aus all dem Unglück ist am Ende Diana, Pauline Courtin, auch mit ihrem  betörend feinen, strahlenden Sopran. Das Publikum feierte alle Mitwirkenden und nicht zuletzt den leider oft verkannten Piccini mit langem, jubelndem Beifall. Vielleicht muss er nun nicht mehr „den Namen Puccini annehmen“, wie einmal Debussy gesagt hat, damit man ihn wieder einmal spielt.

Glucks Iphigenie im Strauss-Gewand

Ist man von Piccinis Musik verzaubert, so gelingt das im Stadttheater Fürth bei der konzertanten Aufführung von Glucks Iphigenie auf Tauris in der 1890 entstandenen Bearbeitung durch Richard Strauss nur teilweise. Das betrifft nicht die musikalische Erfindung, sondern die Darbietung. Zuerst einmal aber stellen sich Fragen. Eine eigene Fassung für ein Meisterwerk und warum? Strauss war 26 Jahre alt, als er Glucks Iphigenie auf Tauris wieder „lebensfähig“ machen wollte mit „einigen kühnen Eingriffen“; er arbeitete hierfür den ganzen ersten Akt komplett um und komponierte einen neuen Schluss, zog die Oper in drei Akte zusammen und erfand neue Motivationen für die Handlung, änderte Stimmaufteilung und Instrumentierung, näherte manche Melodielinie dem Rezitativ, erhöhte den Schwierigkeitsgrad der Gesangspartien, gab dem Thoas rohere Züge, beließ aber Orest und Pylades ihre Profile, ließ die Göttin durch Iphigenies Mund sprechen. Als 1900 die Strauss-Version in stark kritisierter deutscher Textversion in Weimar aufgeführt wurde, erhielt sie zwar Beifall von Cosima Wagner, stand aber danach kaum mehr auf den Spielplänen.  Aber dadurch erhielt er die Verbindung zum Bayreuth-Clan.

Die oft etwas matt klingende Prague Philharmonia unter Leitung von Christoph Spering beginnt sanft-versöhnlich, bevor sich das Dramatische in heftigen Orchester-Figuren stürmisch Bahn bricht. Leider klingt auch der Konzertchor Nürnberg-Fürth oft etwas flach, trotz großer Besetzung. Und auch sonst gelingen im musikalischen Ganzen nur wenige packende, nachdrückliche Höhepunkte. Die männlichen Gesangssolisten wirken insgesamt sehr ausgeglichen. Aris Argiris setzt seinen kraftvollen Bariton manchmal schneidend ein und kann so den Orest als Muttermörder auf der Flucht und in der Qual um seinen Freund Pilades, den angenehm sicher und weich singenden Steven Ebel, glaubhaft gestalten. Daniel Szeili als König Thoas ist mit seinem etwas fülligen, kernigen Tenor kein allzu schrecklicher Herrscher. Alle aber überstrahlt Anna Dennis als Iphigenie: Sie lässt ihre Verzweiflung, ihre widerstrebenden Emotionen durch den nuancierten Farbenreichtum ihres klaren, hellen Soprans spüren, beeindruckt durch glänzende Höhen und anrührend gestaltete ruhige Linien. Der Beifall im voll besetzten Theater gilt hauptsächlich ihrer souveränen Darbietung.

Eine Überraschung: Cherubinis Ifigenia in Würzburg

Eine ganz andere Sicht auf den Mythos von Iphigenie wirft Luigi Cherubinis Ifigenia in Aulide. Hier geht es um die Vorgeschichte der Handlung auf Tauris. Die griechische Flotte liegt bei Windstille im Hafen von Aulis fest, kann nicht nach Troja aufbrechen. Als Bedingung für die Weiterfahrt fordern die Götter vom Heerführer Agamemnon, dass er Iphigenie opfert. Der zögert, seine Tochter hinzugeben, möchte sie zuerst überreden, auf ihren Bräutigam, den siegreichen Achill, zu verzichten. Sie ist verwirrt und verängstigt. Um den Orakelspruch der Götter zu hintergehen, will Agamemnon seine Tochter außer Landes bringen; Achill, ohne Ahnung von den Hintergründen, will das verhindern. Erst als Arcade ihm den Grund für diese Maßnahmen offenbart, erfährt Iphigenie, dass sie um des Kriegsziels willen geopfert werden soll und fügt sich. Achill aber will das unbedingt unterbinden. Im letzten Moment verrät der Priester Calcante, dass die Prinzessin Erifile, eine Kriegsbeute Achills, eigentlich auch Iphigenie heiße; daraufhin tötet sich die unglücklich in Achill Verliebte. Iphigenie und Achill sind wieder ein glückliches Paar, dem Aufbruch nach Troja steht nichts mehr im Wege.

Dass diese vielschichtige Oper von Cherubini, 1788 uraufgeführt in Turin, heute weitgehend vergessen ist, liegt ein wenig am Lebenslauf des für die französische Opernentwicklung so wichtigen Komponisten. Die Ifigenia stammt noch aus seiner italienischen Zeit; danach ging er nach Paris, fiel später bei Napoleon in Ungnade und verzichtete, obwohl gerade deswegen von Beethoven hoch geschätzt, auf weitere musikdramatische Werke; fortan war er hauptsächlich als Schöpfer geistlicher Musik und Direktor des Konservatoriums erfolgreich; nur seine in Paris  entstandene Oper Medée  ist heute noch einigermaßen bekannt.

Nun aber kann seine Ifigenia in Aulide nach der kritischen Edition von Helen Geyer konzertant als deutsche Erstaufführung im Mainfranken-Theater Würzburg einen großen Triumph feiern. Es ist ein Werk mit eindrucksvollen Monologen, mit großen Kontrasten zwischen Intimität und kämpferischem Impetus, mit höchst interessanter, differenzierender Instrumentierung, kantablen Stellen, anspruchsvoller Virtuosität und dramatischer Stärke. Schon die Ouvertüre mit ihren heldischen Akzenten und effektvoll traurigen Tönen führt in die brodelnde Gefühlswelt ein. Das Philharmonische Orchester Würzburg, in kleinerer Besetzung, höchst engagiert geleitet von Enrico Calesso, auch für die Rezitativ- Begleitung am Cembalo zuständig, führt gut in die zerrissenen Emotionen ein, kann Ruhiges, aber auch Heftiges und fast mutlose Trauer vermitteln. Und die Zuordnung einzelner Instrumente zu den Ereignissen gelingt, abgesehen von den extrem schwierigen Aufgaben für die Hörner, bestens. Erstaunlich, mit welch ausdrucksvollen Partien Cherubini seine Sänger bedachte.

Selbst die kleineren Rollen, der Oberpriester Calcante, Bryan Boyce, ein respektabler Bassbariton, und der Vertraute Agamemnons Arcade, die höhensichere Anja Gutgesell mit hellem Sopran, vermögen in kurzen Auftritten ihren Gestalten Profil zu geben. Der mächtige Heerführer Agamemnon wird von dem angenehm elanvollen, hellen Tenor Joshua Whitener gestaltet; vielleicht hätte dieser Rolle eine etwas fülligere, dunkler timbrierte Stimme noch mehr Gewicht verliehen; auch wenn die Verzierungen nicht immer ganz locker laufen, klingen die langen Linien dafür schön gestaltet und bei seiner breit angelegten Arie O Nacht kann er uneingeschränkt imponieren. Als Ifigenia aber brilliert Roberta Invernizzi mit ihrem ausdrucksstarken, großen Sopran, mit ihrem bewegten Parlando, der profunden Tiefe, der schön klingenden Mitte und der klar strahlenden Höhe. Sie ist mit ihrer intensiven, emotionalen Ausdruckskraft eine echte Heroine. Ihr Held ist natürlich der geliebte Achille; ihn singt der Countertenor Ray Chenez mit fein flexibler, nie scharfer Stimme und kann Aufgewühltes, Kämpferisches zeigen, bewältigt die schnellen, hohen Koloraturen mühelos. Die aussichtslos Liebende Erifile, die sich auf offener Bühne tötet – damals ein Tabubruch! – ist bei der glänzend singenden Silke Evers bestens aufgehoben, denn deren schön timbrierter Sopran kann sich in den strahlenden Höhen fein entfalten. Eine echte Überraschung aber beschert Polina Artsis als Ulisse: Die Mezzosopranistin verfügt über eine wunderbar runde, warme Stimme und führt sie mühelos durch alle Register von der samtig dunklen Tiefe zur glänzenden Höhe und gestaltet dabei noch ausdrucksstark und differenziert.

Nach dem Schluss im gut gefüllten Haus zeigt sich das Publikum restlos begeistert und feiert alle Mitwirkenden lang mit stehenden Ovationen und Bravorufen.   

Renate Freyeisen