Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Horst Dichanz - Foto © privat

Kommentar

Grenzwertige Kulturpolitik

In Mecklenburg-Vorpommern ist es insbesondere um die Theaterlandschaft schlecht bestellt, und die Zukunft sieht alles andere als rosig aus. Allgemeine Ahnungslosigkeit trifft auf hektischen Aktionismus.
Joachim Kümmritz, ehemals Intendant in Schwerin, muss in Rostock einspringen. - Foto © Silke Winkler

Die etwa 17 Millionen Einwohner Nordrhein-Westfalens (NRW) können sich freuen, rund 130 Theater in gut erreichbarer Nähe zu haben. Das gilt für Xanten und für Zentren wie Bochum oder Dortmund gleichermaßen. Die mehr als anderthalb Millionen Bewohner von Mecklenburg-Vorpommern sind da wesentlich schlechter dran, sie verteilen sich auf einer Fläche von rund 23.000 Quadratkilometern, das entspricht etwa zwei Drittel der Fläche von NRW. Die Bewohner konzentrieren sich in den Städten Rostock, Schwerin und Stralsund. Dreizehn Theater nennt eine landesweite Liste, darunter das Staatstheater in Schwerin und weitere Landestheater wie Parchim und Anklam, aber auch kleinere Spielstätten wie Güstrow und Cronskamp. Dazu kommen zahlreiche private Bühnen und Freilichttheater wie etwa die populären Störtebeker-Festspiele auf Rügen oder die Angebote der kleinen, aber feinen Opernale rund um Greifswald. Theater genug, reicht das nicht für 1,6 Millionen Einwohner?

Zum einen bieten nur die großen Häuser komplette Spielzeiten, Mehrspartenhäuser gibt es nur drei. Auf die Bevölkerung umgerechnet wird es da schon schmal: Ein Theater für gut 100 000 Bürger. Bei der dünnen Besiedlung besagt das im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern (MV) wenig. Zu dieser Erschwernis kommt ein bis heute nicht gestoppter Wegzug aus MV, der die kulturelle Versorgung der Bevölkerung östlich der Elbe zusätzlich erschwert. Wenn zudem mehrere in der Kulturpolitik erfahrene Fachleute noch bestätigen, dass die historisch entstandene Trennung zwischen Mecklenburg und Vorpommern nicht aufgehoben sei und weiterbestehe, stehen Kulturschaffende und Kulturpolitiker in MV vor der Aufgabe, die Quadratur des Kreises zu lösen. Wie den einen Landesteil versorgen, ohne den anderen zu benachteiligen? Auch gut gemeinte, aber ökonomisch-fantasielose, externe Gutachten haben der Landesregierung, seit 2011 eine große Koalition von SPD und CDU unter Ministerpräsident Erwin Sellering und seinem Kultusminister Mathias Brotkorb, beide SPD nicht wirklich weitergeführt. Das von der Regierung bestellte und 2014 dem Landtag vorgelegte Gutachten der Metrum Agentur aus München, erfahren in ökonomischer Aufschlüsselung komplexer Sachverhalte, aber ahnungslos in kulturellen Fragen, hat wenig weitergeholfen.

„Wir haben niemals die Zahlen des Metrum-Gutachtens für das Staatstheater akzeptiert“, sagt Angelika Gramkow, Oberbürgermeisterin von Schwerin. Generalintendant Joachim Kümmritz, Schwerin, musste bereits mit der Insolvenz des Staatstheaters drohen. Der Landesregierung bleibt nichts anderes übrig, als mit einem neuen Planungspapier eine eigene pragmatische Zwischenlösung zu suchen. Sie schlägt zwei Theaterzentren vor: ein „Staatstheater Schwerin“ und ein „Staatstheater Nordost“.

Es ist nicht zu leugnen: MV steckt kulturpolitisch in der Klemme, und ökonomisch geschulte Theaterleute rechnen einem schnell vor, dass jedes Stadtsäckel, aber auch eine Landeskasse überfordert ist, wenn sich herausstellt, dass jede Vorstellung pro Sitzplatz einen Zuschuss von etwa 190 Euro verlangt, wie das beispielsweise in Rostock der Fall ist. Zum Vergleich: In NRW sind es 113 Euro. Die gut 500 Sitze im Großen Haus Rostocks kosten die Stadt zirka 90.000 Euro pro Vorstellung, pro Woche also ..., im Jahr … Man braucht dieses makabre Zahlenspiel nicht fortzusetzen, es schmerzt schon jetzt – und eine Lösung wird dadurch nicht sichtbarer.

Landesregierung und Kulturausschuss arbeiten an einer Lösung, die eine Neuregelung für alle Häuser in MV bringen soll. Das wird höchste Zeit, die durchaus vorhandene und aktive Kulturgemeinde wird immer unzufriedener mit ihren Kulturpolitikern. Dann stehen im September dieses Jahres noch Landtagswahlen ins Haus, für die sich Ministerpräsident Sellering warm anziehen muss. In der Lokalpresse wird vom „Unvermögen der Regierung“ gesprochen, viele sehen „dieses Polittheater“ nicht mehr auf der Bühne, sondern im Landtag, halten die Theaterversorgung für „vollkommen überdimensioniert“ und entdecken im Kultusministerium einen „rechthaberischen Minister“. Ein Leser schlicht: „Der Junge überzeugt mich nicht“. Nach pragmatisch-praktikablen Vorschlägen sucht man vergebens.

Zurzeit konzentrieren sich die politischen Lösungen auf ein Modell mit zwei Zentren, das die Landesregierung aus dem Metrum-Vorschlag weiter entwickelt hat. Dieses „Eckwertepapier“ schlägt vor, die bisherige Theaterlandschaft in einem „Staatstheater Schwerin“, mit dem das kleine Haus Parchim fusioniert werden soll, und dem „Staatstheater Nordost“ mit den Hauptstandorten Stralsund, Greifswald, Neubrandenburg und Neustrelitz zusammenzufassen. Daneben bleibt das Volkstheater Rostock das Sorgenkind Nummer Eins, ein krisengeschütteltes Theater, das Kenner als „ein Drama … – absurd, intrigant, größenwahnsinnig, tragisch“ bezeichnen, ohne Perspektive. Da weiß auch Kultusminister Mathias Brotkorb nicht weiter. „Rostock ist ja der einzige Standort, der sich vehement der Idee verweigert hat, mit dem Land gemeinsam eine Reform zu machen“, sagt er.Seit einigen Wochen hat der bisherige Schweriner Generalintendant Kümmritz nach seinem dortigen Vertragsende die Sisyphos-Arbeit übernommen, für das Volkstheater Rostock ein neues Fundament zu suchen. Die Situation ist ziemlich verfahren und praktikable Lösungen sind bis jetzt nicht gefunden. Selbst der betroffene Intendant des Theaters Vorpommern, Dirk Löscher, gibt zu: „Man muss auf der anderen Seite aber sehen, dass es keine wirklich guten Vorschläge gibt.“

Dabei sind solche Strukturprobleme keineswegs neu. Es gibt Erfahrungen mit ähnlichen Herausforderungen – im Osten wie im Westen. Mit den Stichworten Schulsterben und Kirchensterben seien nur zwei Beispiele für Strukturveränderungen genannt, die immer auf Kosten gering genutzter Ressourcen gingen und die sehr vielen kleineren Orten das Wasser abgraben – bis heute. Wer einmal einen Ausflug von Wittenberge in Brandenburg oder Parchim in Mecklenburg in östlicher Richtung unternimmt und dabei die Autobahnen meidet, wird erschrocken sein von der Leere der Landschaft und dem offensichtlichen Niedergang kleinerer und mittlerer Orte. Katastrophal. Mit jeder Schließung einer gemeinschaftlich genutzten Einrichtung, gleichgültig ob Schule, Kirche, Tante-Emma-Laden, Kita oder Theater, egal ob groß oder klein, ob „rentabel“ oder nicht, man nimmt diesen Orten Zukunftschancen und liefert sie einer ungewissen Zukunft aus.

Da mögen einem die Haushälter noch so viel Etatzahlen vorblättern, die Reduktion gesellschaftlicher Strukturen auf das „Bezahlbare“ führt über kurz oder lang zu einem „Sinnvakuum der kapitalistischen Gesellschaft“.

Vielleicht hilft ein Blick über die Landesgrenzen hinweg: Bei den westlichen Nachbarn, den Niederländern findet man eine durchaus passable Lösung. Hier hat die Reichsregierung in Den Haag mit der Reisopera eine Institution gegründet, deren ausdrückliche Aufgabe es ist, mit guten Theater-Aufführungen das Land zu bereisen. Und so können Niederländer in Enschede einen Siegfried, in Groningen eine Aida sehen, ohne ein eigenes Ensemble vor Ort bezahlen zu müssen. Die Nederlandse Reisopera  garantiert eine künstlerische Qualität, die sich inzwischen manche Reputation erworben hat.

Wer weiterhin in einer Wertegemeinschaft leben will, die so oft beschworen wird, ist auf dem Holzweg, wenn er die Globalisierung und ihre Folgen nur ökonomisch sieht. „MV tut gut“ daran und wäre gut beraten, sich seine Werte etwas kosten zu lassen – es zahlt sich aus.

Horst Dichanz

Kommentare geben die persönliche Meinung der Verfasserin oder des Verfassers, aber nicht in jedem Fall die Auffassung von Opernnetz wieder.