Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Subtil treffend, tiefsinnig unterhaltsam

Unbekümmert, schwerelos, poetisch, narrativ entführt Hugo Ball den Leser unterhaltsam in das biedere bürgerliche Zürich und Basel zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gemächlich fließt die fiktive Geschichte mit autobiografischen Zügen und dabei wird eine detailgetreue Milieustudie und Gesellschaftssatire gestaltet, die erfrischend pointiert und erbarmungslos kritisch, subtil anprangernd Einblick in das Künstler- und Varietéleben, stellvertretend für die Gesellschaft, gibt.

Ball war selbst ein vielseitig begabter Künstler, der in vielen unterschiedlichen Positionen seinen Werdegang zu einer führenden Persönlichkeit der Kunstwelt durchlief. Der gipfelte in der Gründung des Dadaismus durch seinen Auftritt im Cabaret Voltaire 1916. In einen schrägen Pappkartonmantel gehüllt, rezitierte er inhaltslose Gedichte als Ausdruck der Revolte gegen die vorherrschende Kunstwelt. Der Dadaismus drückte seine Ablehnung traditioneller Kunstformen in Parodie und Satire aus. Angeblich fand die Bewegung ihren Namen, indem Hugo Ball mit einem Messer in ein französisches Lexikon stieß und dabei das Wort Dada traf, das in der französischen Kindersprache Steckenpferd bedeutet. Das Cabaret Voltaire war eine Gründung von Ball und seiner Freundin Emmy Henning, die es jedoch bald wieder verließen. Doch die Erfahrung des Theaterlebens floss in den anschließend geschriebenen Roman Flametti ein.

Viele bedeutende Künstlerpersönlichkeiten gehörten zum engen Bekannten- oder Freundeskreis von Hugo Ball, der 1886 in Pirmasens als Sohn eines Schuhfabrikanten geboren wurde. Erst nach heftigen familiären Auseinandersetzungen durfte er Germanistik und Philosophie unter anderem in München studieren. Seine Dissertation über Nietzsche in Basel wurde nie fertiggestellt. Dafür arbeitete er mehrere Jahre an den Kammerspielen, zuletzt als Dramaturg, bevor er dort nach einem Führungswechsel ausschied. Eine langjährige Freundschaft verband ihn mit Hermann Hesse, über ihn verfasste er auch eine Biografie. Ein Projekt mit seinem Freund Wassiliy Kandinsky, ein Almanach über die Kunstrichtung der Blauen Reiter, wurde nicht vollendet.

POINTS OF HONOR
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 Ab 1917 arbeitete er als Autor und Verlagsleiter und wandte sich später dem Katholizismus zu. 1918 erschien sein autobiografischer Roman Flametti oder Vom Dandysmus der Armen.

Der Roman spielt in der Kabarett-Szene in Zürich und Basel, wo Ball und seine Lebensgefährtin Hennings schon vor ihrer Dada-Zeit gemeinsam auftraten und er seine Erfahrungen und auch persönlichen Eindrücke kunstvoll in Worte kleidete.

Der Held Max Flametti ist eine gestandene Künstlerfigur des Züricher Varietés, ein eher kleinwüchsiger, muskulöser, einfacher, aber energischer Kauz, der das Leben liebt und versteht zu überleben. Er ist Direktor eines eher erfolglosen mittelklassigen Ensembles, das ständig ums Überleben kämpft. Flametti lebt mit seiner Ehefrau Jenny und dem Ensemble unter einem Dach. Jeden Mittag wird gemeinsam gegessen, der Direktor fischt höchstpersönlich die leckere Hauptspeise aus der Limmat. Brillant zeichnet er ein farbiges Bild der einzelnen Gestalten wie Herrn und Frau Häsli, das Jodlerterzett, die Soubrette oder das Zimmermädchen Rosa.

Um zu Geld zu kommen, versucht sich Flametti erfolglos auch als Opiumdealer mit dem zwielichtigen orientalischen Geschäftsmann Ali Mehmed Bey. Vom Misserfolg getrieben, gelingt es ihm, vom Erfolgsautor Rotter ein neues Stück für sein Ensemble zu ergattern – exotisch anmutend mit Indianern, ein aussterbendes Volk auf dem Kriegspfad. Ein großes Orchester mit Schlagzeug und Basstrompeten wird angeheuert, sein gesamtes Ensemble probt begeistert seine Rollen und wirkt an den sonstigen Vorbereitungen mit. Mitten drin Flametti als Häuptling Feuerschein. Passend ausgewählt und vom Autor ausführlich beschrieben ist der Aufführungsort, das Gasthaus Krokodil in der Fuchsweide. So lernen wir die honorige Gesellschaft dieser Gegend in vielen skurrilen Gestalten kennen. Das ungewöhnliche Stück wird zum großen Erfolg, der erwartungsgemäß dem mit einem großen Selbstbewusstsein ausgestatteten Helden in den Kopf steigt. Er verinnerlicht den Häuptling, nutzt die Gunst der Weiblichkeit und verprasst das hart verdiente Geld, alles sehr zum Leidwesen seiner Frau Jenny. Der Versuch, das Stück in Basel aufzuführen, scheitert. Liebesverwirrungen und Irrungen bis zur Vaterschaftsklage, Streitigkeiten und die Polizei setzen dem Helden und seinem Ensemble zu. Das Geld ist wie gekommen auch so schnell wieder zerronnen.

Ball schildert dir Geschichte mit großer Lebendigkeit und einer Leichtigkeit im Schreibstil. Unverkennbar seine scharfen Beobachtungen und seine kritische Haltung gegenüber der steifen, bürgerlich bornierten Gesellschaft. Auch die Künstler bekommen ihr Fett ab und erscheinen meist gierig, sich selbst überschätzend. Aber das wirkt als sein Prinzip, um der Geschichte Farbe und Spannung zu geben. Die Lektüre ist eine kurzweilige Unterhaltung, die gleichzeitig an Tiefgang nichts vermissen lässt. Schon nach wenigen Zeilen fühlt man sich mitten drin im Ensembleleben, wird mit den verschiedenen Charakteren vertraut und fiebert am Premierenabend mit. Man hört förmlich das Getümmel im Publikum, riecht den fahlen Bierdunst und Schweißgeruch im Krokodil. Auch für den Helden erübrigt man zu Beginn viel Sympathie, die sich im Laufe der Geschichte verliert. Die Satire bleibt nicht ohne Wirkung, und die Aktualität ist ungebrochen im Bezug zur heutigen Gesellschaft. Treffend bemerkt der Autor seine Absichten im mit abgedruckten Vorwort. „Nun haben meine Herrschaften einen großen Fehler. Sie möchten ganz im Grunde nicht gerne unmoralische Indianer sein. Sie möchten edle Indianer, hochherzige bourgeoise Indianer, am liebsten Salon-Indianer sein ... Sie möchten Dandys, wenigstens untereinander, sein. Und das macht sie so komisch: Sie haben alle Phraseologie des heutigen Bürgertums in ihren Gestus säkularisiert, in heißem, rührendem Bemühen, kein Lumpenproletariat zu sein“.