Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bertrand Stofleth

Hintergründe

Bühne frei für die Menschlichkeit

Die Oper in Lyon setzt ein Zeichen gegen Ausgrenzung und für Toleranz in heutiger Zeit. Vom 15. März bis zum 3. April findet das Festival Pour L'Humanité statt. Intendant Serge Dorny präsentiert vier ungewöhnliche Werke.
Serge Dorny, Intendant der Opéra de Lyon - Foto © Phillippe Pierangeli

In Lyon blüht das Opernleben. Das liegt am Intendanten Serge Dorny, der die Opéra National de Lyon seit 2003  mit Unterbrechung leitet. Seine innovative, in gesellschaftlichen Zusammenhängen denkende Spielplanpolitik, zu der viele Ur- und Erstaufführungen, darunter John Adams‘ The Death of Klinghoffer, gehören, hat dem Haus internationale Reputation beschert. In dieser Spielzeit sind es unter anderem die Offenbach-Entdeckung Le Roi Carotte und die geplante Doppelinszenierung von Tschaikowskis Jolanthe und Strawinskys Persephone durch Peter Sellars, die die Opernfreunde nach Lyon locken. Doch nicht nur die regulären Premieren ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Einmal im Jahr, im Frühling, bündeln sich die Kräfte des Opernhauses für ein Festival. „Es ist eine Gelegenheit, die Oper in der Stadt und in der Region zu feiern, die Oper zu einem Ort der Begegnung im Herzen der Stadt werden zu lassen“, sagt Dorny.

Das diesjährige Festival, das am 15. März eröffnet wird und 20 Tage dauert, steht unter dem Motto Pour l’humanité, also Für die Menschlichkeit. Ursprünglich sollte es L’Autre, Der Andere heißen. Doch nach den Pariser Anschlägen im Januar und November 2015 wählte Dorny den neuen, ihm zutreffender erscheinenden Titel. Auf dem Programm stehen vier Opernwerke. Sie handeln von Immigration und Exil, von Ausgrenzung und Verfolgung, von Antisemitismus und Rassismus. Das Thema könnte angesichts der weltweiten Flüchtlingskrise nicht aktueller sein. Im Fokus der ausgewählten Stücke stehen Menschen jüdischer Herkunft, doch sind deren Schicksale, denkt man an die zahlreichen verfolgten religiösen oder ethnischen Minderheiten, durchaus auf die Gegenwart übertragbar. Insofern kommt dem Festival auch politische Relevanz zu.

Uraufführung von Debütanten
Szene aus Der Kaiser von Atlantis - Foto © Jean-Luis Fernandez

Der Bogen der vier Opern spannt sich über drei Epochen vom 19. Jahrhundert bis zur Jetztzeit. Eröffnet wird mit der Uraufführung von Benjamin Dernière Nuit, für die der Schweizer Avantgarde-Komponist und Dirigent Michel Tabachnik und der linke Philosoph und Autor Régis Debray gewonnen werden konnten. Für beide ist es die erste Oper. Sie beschäftigt sich mit dem Leben des Philosophen Walter Benjamin, der auf dem Weg ins Exil kurz vor der spanischen  Grenzüberschreitung Selbstmord beging. Ausgangspunkt ist Benjamins letzte Nacht, in der er auf sein Leben und Wirken zurückblickt, auf Begegnungen mit intellektuellen Größen und Weggenossen wie Hannah Arendt, Bertold Brecht und Max Horkheimer. John Fulljames hat die Regie übernommen, Bernhard Kontarsky, ausgewiesener Kenner für die Moderne, dirigiert. Die angekündigte Mixtur aus polystilistischer Partitur, philosophischem Diskurs im historischen Kontext und ausgeklügeltem Regiekonzept verspricht spannendes Musiktheater.

Geschichtsbewusstsein gehört dazu
Szene aus Benjamin Dernière Nuit - Foto © Bertrand Stofleth

Zurück in das 19. Jahrhundert führt Jaques Fromental Halévys Grand opéra La Juive. Sie erzählt an Hand der tragisch verlaufenden Liebesgeschichte zwischen der titelgebenden Jüdin und einem Reichsfürsten von der Judenverfolgung im späten Mittelalter. Bis 1933 europaweit gehörte die große historische Oper zum festen Repertoire, wurde dann von den Nationalsozialisten verboten und erst in den 1990-er Jahren rehabilitiert. Frankreichs Regiestar Olivier Py inszeniert das ausladende Werk, das zur Toleranz zwischen den Religionen aufruft. Die Besetzung ist international und erlesen: Heldentenor Nikolai Schukoff gibt sein Debüt in der Caruso-Rolle des Eléazar, Sabina Puértolas und Rachel Harnisch konkurrieren um die Tenorhoffnung Enea Scala und der bedeutende italienische Bass Roberto Scandiuzzi gibt den Kardinal. Am Pult steht mit Daniele Rustioni einer der gefragtesten Dirigenten der jungen Generation.

Neben den beiden abendfüllenden Opern stehen die zwei Einakter Der Kaiser von Atlantis und Brundibár auf dem Programm. Sie sind keinesfalls weniger gewichtig, legen sie doch Zeugnis ab von einem – trotz der grausamen Umstände – künstlerischen Reichtum im Konzentrationslager Theresienstadt. Ihre Entstehungs- und Aufführungsgeschichte ist untrennbar mit den Biografien der jüdischen Komponisten Viktor Ullmann und Hans Krása verbunden, die beide 1944 in Ausschwitz ermordet wurden. Während Ullmanns Der Kaiser von Atlantis, eine symbolträchtige Legende über einen totalitären Staat, zwar in Theresienstadt komponiert, aber erst 1975 uraufgeführt wurde, gehörte Krásas Kinderoper Brundibár, die vom Sieg eines Geschwisterpaares gegen einen Tyrannen handelt, dort zu den meistgespielten Werken. Beide Opern sind Studioproduktionen, die mit Nachwuchskünstlern aus der Opernschule realisiert werden. Der Kaiser von Atlantis findet im Théâtre National Populaire statt, Brundibár im Théâtre de la Croix-Rousse.

Das Festival für die Menschlichkeit will Brücken bauen, Stellung beziehen, zum Nachdenken anregen und zur Toleranz aufrufen. Dazu noch einmal Serge Dorny: „Pour l’humanité ist eine Antwort auf jene, die gegen die Menschlichkeit handeln. Unsere Gesellschaft ist eine vielfältige Gesellschaft, in der verschiedene Kulturen und andere Religionen mitten unter uns ihren Platz gefunden haben“.

Karin Coper