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Buch

Ein Buch wie ein Orkan

Wenn man ein halbes Jahrhundert auf dieser Erde zugebracht hat, sollte einem – sofern man nicht völlig abgestumpft und weltentrückt ist – kaum mehr etwas Menschliches fremd sein. Drogen, Dekadenz, Prostitution, Perversion, Liebe und so weiter. Alles hat man in diesem Alter selbst erlebt oder zumindest davon gehört. Bis hin zum Kindesmissbrauch, in kirchlichen Erziehungsanstalten gerade in Deutschland anscheinend eine höchst verbreitete Freizeitgestaltung.

Und wir finden das auch alle ganz schrecklich. Mit Kindern, so was tut man doch nicht. Die armen Kleinen. Dass die dann nach 30 Jahren plötzlich den Mund aufmachen und womöglich Wiedergutmachung verlangen, gar Bestrafung der Verantwortlichen – also jetzt mal ehrlich, Hand aufs Herz, das ist vielleicht doch ein wenig überzogen. Worauf haben die denn so lange gewartet? Wer soll denn, mal ernsthaft, nach all der Zeit, noch etwas aufklären können? Sagt die Kirche ja auch.

In seinem Buch Der Klang der Wut erklärt James Rhodes uns die Folgen von Kindesmissbrauch so deutlich, dass einem das Gehirn zerspringen möchte. Bewusst setzt er eine rohe Sprache gegen das Wunder der Musik und verschärft damit die Wirkung seiner Erzählung. Spätestens nach hundert Seiten wünscht man sich nur noch, das alles sei Fiktion. Ein böser Alptraum, einem kranken Hirn entsprungen, ein Versuch, Dean Koontz oder Stephen King den Rang als Horrorschriftsteller abzulaufen. Nichts dergleichen. Rhodes gehört zu den besten Pianisten der Welt. Auf mehr als 300 Seiten schildert er, welchen Preis er dafür zahlen musste.

POINTS OF HONOR
Buchidee
Stil
Erkenntnis
Preis/Leistung
Verarbeitung
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Plötzlich verstehst du, wie tief dieser sexuelle Missbrauch in die Psyche eingreift, dein künftiges Leben beherrscht und nachhaltig beeinflusst. Rhodes gelingt es, den Leser nicht nur an den Haarwurzeln zu packen, sondern sich in seine Haut einzuritzen, unauslöschlich das Leid und das Grauen in die Poren einzureiben. Immer tiefer zieht er dich in diesen Sog, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint, bloß, weil ein Sportlehrer seinen Schwanz in den Anus eines Fünfjährigen getrieben hat, wieder und wieder.

Unnachgiebig treibt er den Keil der Erkenntnis weiter in dein Hirn, lässt dich nicht mehr aus und zieht dich mit hinein in die Spirale, die immer nur nach unten drehen kann. Wen wundert es da, dass die US-amerikanische Prüderie ein solch fundamentales Werk verbieten wollte, ehe ein Gerichtsurteil die Veröffentlichung ermöglichte? Da hat man doch über Jahrhunderte über die Folgen von Kindesmissbrauch hinwegsehen können, mit tief empfundenem Mitleid, gewiss. Aber eben nicht so genau hat hinschauen müssen, dass es die eigene Seele auch nur annähernd wie die des Menschen verletzt, der nach sexuellen Übergriffen keine Chance auf ein eigenes, selbstbestimmtes Leben mehr hat.

Rhodes schont uns nicht annäherungsweise. Wie eine Axt treibt die raue Sprache tief in den Holzklotz der sich verschließen wollenden Seele des Lesers, beständig entblößt er sich selbst, um dich nicht entkommen zu lassen aus der Kaskade der Gewalt. Da mag der eine oder andere sich gerade noch über sein Statement für das Rauchen aufregen wollen, als auch schon die Höllenfahrt von Psychopharmaka, Psychiatrieaufenthalten und dem Versuch, die eigene Familie zu retten, beginnt. Was passiert denn eigentlich, wenn das eigene Kind in das Alter kommt, in dem der Missbrauch begann? Die Qualen plötzlich als konkrete Bedrohung für den Zögling vor dem geistigen Auge auftauchen. Da begreift man: Das ist das Grauen pur.

Kindesmissbrauch ist noch immer eines der Tabuthemen unserer Zeit. Rhodes räumt damit auf. Die eindrucksvollste Musikerbiografie kommt so nicht aus Deutschland, sondern aus Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wer sich traut, sich auf dieses Grauen einzulassen, wird belohnt. Mit einer tieferen Erkenntnis und der Freude, dass so einer – der eigentlich das Opfer und nicht der Täter ist – es am Ende doch noch schafft. Die Blessuren, die bleiben.

Michael S. Zerban