Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Tamar Lamm

Aktuelle Aufführungen

Die Gefühle der anderen

COMMON EMOTIONS
(Yasmeen Godder)

Besuch am
19. November 2016
(Premiere am 18. November 2016)

 

 

In einer Welt, in der das Wir nichts mehr zu gelten scheint, wird es offenbar immer wichtiger, genau danach zu fragen und wieder ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Diese Aufgabe hat sich Yasmeen Godder gestellt. Dabei geht die Choreografin darüber hinaus, die tänzerischen Möglichkeiten zu befragen. In ihrer Vorstellung muss das Publikum aktiv in das Aufführungsgeschehen einbezogen werden, damit es eigene Antworten finden kann.

Gemeinsame Gefühle – die gilt es, in ihrer neuesten, gleichnamigen Arbeit Common Emotions zu wecken.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Es beginnt ungemütlich. Die Bühne von Gill Avissar ist blankgefegt, die Seitenbühnen sind geöffnet. Ein paar bunte Seile sind über die Traversen geführt und mit einem bunten Knäuel verbunden, dass sich später als Flickenvorhang mit verschiedenen Funktionen entpuppen wird. Sechs Tänzerinnen und Tänzer treten geschlossen auf. Avissar und Adam Kalderon haben sie zunächst in Kostüme gesteckt, die an extrem lässige Probenkleidung erinnern. Mit einfachsten Mitteln verwandeln sich die Akteure im Lauf der Performance, also der genreübergreifenden Aufführung, in Fabelwesen. Omar Shelzaf taucht die Szenerie in professionelles Licht, ohne sich in überflüssigen Effekten zu verlieren.

Foto © Tamar Lamm

Vorerst startet die Gruppe mit etwas, was gut als Aufwärmübung durchgehen könnte. Der Vorhang wird hochgezogen. Dann tritt einer der Tänzer hervor und begrüßt das Publikum. Auf Englisch erklärt er sehr freundlich, dass jedesmal, wenn ein Akteur neben den Vorhang tritt, Zuschauer beiderlei Geschlechts auf die Bühne hinter den Vorhang kommen können. Diese Einladung wird von nun an mit schöner Regelmäßigkeit in der 70-minütigen Aufführung wiederholt. Die Zuschauer, die der Aufforderung folgen, werden hinter dem Vorhang, während davor der Tanz weitergeht, mit emotionalen Situationen wie Freude, Wut, Ärger oder Hoffnung konfrontiert. Im weiteren Geschehen verliert sich jede Ordnung. Mehrere Besuchergruppen finden sich gleichzeitig auf der Bühne ein, eine Tänzerin wählt Einzelpersonen aus, um sie vor dem Vorhang in den Arm zu nehmen und zu Boden gleiten zu lassen – die Intimzone wird durchbrochen, aber es wird nicht so recht klar, wie die Betroffenen damit klarkommen; dazu funktioniert die Sozialisierung als Schüler, der den Anweisungen einer Lehrerin folgt, zu gut.

Und während das tänzerische Erlebnis mehr und mehr in den Hintergrund gerät, selbst „Erschöpfungszustände“ sind zugelassen, gewinnt der emotionale Austausch mit dem Publikum an Gewicht. Zutreffender formuliert: Mit Teilen des Publikums. Also mit solchen Menschen, die auch bereit sind, sich dieser Situation auszusetzen. Aber das geht in Ordnung. Schließlich werden keine validen, wissenschaftlichen Ergebnisse gesucht, sondern emotionale Erfahrungen in der Gruppe.

Und dazu trägt Tomer Damsky mit einer eindrucksvollen Musikzusammenstellung bei, die zwischendurch immer wieder aufleuchtet. Sie scheut nicht vor klassischer Orchester- und Violinmusik zurück, auch wenn die immer wieder nach durchlittener Dramatik in Störgeräuschen untergeht. Und gerade das ist nach dieser „Seelenmusik“ überaus gekonnt. Trägt es doch genauso wie Godders Choreografie dazu bei, das Stück in die Gegenwart zu tragen.

Sachlichkeit war gestern. Längst ist sie abgelöst von Sprach- und Handlungsunfähigkeit in der Politik, von Hasstiraden in den so genannten sozialen Medien des Internets. Was aber kommt danach? Müssen wir zu einer neuen Sachlichkeit zurückfinden oder ist die Sachlichkeit der Fehler? Liegt die Lösung darin, sich in der Gemeinschaft emotional zu entfalten, um zum Wir zurückzukommen? Ein interessanter Gedanke, zu dem Godder keine Stellung bezieht, sondern Fragen aufwirft, auf die im Publikum nur jeder für sich eine Antwort finden kann. Die vielleicht nach den Erfahrungen dieses Abends anders ausfallen.

Die Zuschauer jedenfalls sind von dieser Aufführung schwer begeistert und applaudieren ausgiebig. Damit kann die Diskussion dann wohl – hoffentlich – beginnen.

Michael S. Zerban